Die Toddlerdame ist jetzt etwa 20 Monate alt – und sagt ihre Geschäfte (noch) nicht (ganz) zuverlässig an. Also der beste Moment, um über Windelfrei nachzudenken und ein Resümee zu ziehen.
Vielleicht geht es dir ja ähnlich.
Oder du stehst am Beginn und fragst dich, ob Windelfrei überhaupt etwas für euch ist:
- Du hast bereits Erfahrung mit dem Wechseln von Windeln und mit der Schwierigkeit, dass Windeln oft nicht das gesamte Geschäft auffangen können? Gerade in den ersten Monaten stellen viele Eltern erschrocken fest, dass die Windel „übergeht“ und der Milchstuhl sich bis hinauf zum Rücken verteilt.
- Wie er das macht? Keine Ahnung! Irgendwie schafft er es. Immer wieder. (Der junge Mann kam erst mit 4 Monaten in den Genuss der Ausscheidungsbedürfniskommunikation – davor zeigten sich so manche interessante Eigenschaften von Milchstuhl …)
- Oder du wickelst bereits eine Weile und hast langsam eine Ahnung davon, dass du das sehr wahrscheinlich nicht noch weitere 3 bis 4 Jahre machen möchtest?
- Vielleicht hast du auch Zwillinge und somit sowieso schon eine doppelte Herausforderung, sodass du diese Doppelbelastung möglichst schnell reduzieren möchtest?
- Oder du möchtest spätestens nach zwei Jahren wieder in den Job einsteigen. Zu diesem Zeitpunkt geht dein Kind dann in den Kindergarten oder zur Tagesmutter. Da wäre es ja für alle viel einfacher, wenn sie/er bis dahin keine Windeln mehr benötigen würde.
Die Lösung: Windelfrei!?
In jedem Fall kommt Windelfrei wie gerufen!
Du musst dein Kind nur regelmäßig abhalten und später auf das Töpfchen setzen, dann ist es spätestens mit 1,5 Jahren „trocken“ und du musst keine Windeln mehr wechseln. Nach dieser Zeit musst du dich endlich um keine fremden Geschäfte mehr kümmern!
Keine Windeln mehr kaufen.
Dein Kind nicht mehr auf dem Rücken liegend beschäftigen zum gleichzeitigen Rumhantieren mit Windel und Saubermachen.
Kein übervoller und stinkender Mülleimer mehr!
Alle (oder viele) Geschäfte landen dort, wo sie hinsollen: In der Toilette. Höchstens noch sauber machen, das wars dann aber auch schon.
Du sparst Zeit und Geld.
Dein Kind bekommt keine Windeldermatitis (sehr schmerzhafte Entzündung der Haut im Intimbereich, die sich bis zum Rücken und den Oberschenkeln hin ausbreiten kann. Tritt etwa bei 2/3 aller Babys auf, bei etwa 25% regelmäßig; siehe z. B. Weiberl et al., 2012).
Und eben das Wichtigste: Dein Kind ist viel früher (als sonst üblich) „trocken“!
Schön wärs …
Doch Windelfrei ist nun mal keine Erziehungsmethode. Windelfrei ist kein Programm, mit dem du dein Kind garantiert schnell(er) trocken bekommst! Und dein Kind ist auch kein Automat, in den du A hineingibst und B herausbekommst.
Windelfrei „funktioniert“ nicht!
Windelfrei ist die Kommunikation über das kindliche Ausscheidungsbedürfnis. Zwischen dir oder anderen Bezugspersonen und deinem Kind. Und Kommunikation läuft am besten, wenn der eigene Standpunkt verlassen werden kann und open minded miteinander gesprochen wird. Ohne fixe Vorstellung. Ohne einseitige Erwartungen.
Dann kann sich ein Gespräch entwickeln und es können sich beide Gesprächspartner wohlfühlen. Wenn der Ausgang offen ist. Wenn „nein“ gesagt werden darf. Oder „ja“. Oder eine Alternative gefunden und gewählt werden kann.
Jedes Kind ist individuell mit eigenen Wünschen und Vorstellungen. Genau wie du. Eben eine eigene Persönlichkeit.
Darin liegt auch die Lösung
Vielleicht bist du auch auf die Illusion oder den Wunsch des garantierten frühen „Trockenwerdens“ hereingefallen? Zu verlockend ist dieser Vorstellung. Noch dazu, weil viele Windelfrei-Befürworter auch genau mit diesem Argument dafür werben.
Und oft trifft es ja auch zu. Rugolotto und Kollegen (2008) z. B. geben in einer großen Windelfrei-Umfrage zum „Trockensein“ ein Durchschnittsalter von 17.5 (tags und nachts) an.
Aber es ist eben nur ein Durchschnittswert. Keine Maximal-Grenze. Keine strikte Vorhersage oder Wahrsager-Kugel.
Lass dich davon nicht in die Irre führen! Du bist keine schlechtere Mutter, wenn dein Kind nicht mit 1,5 Jahren „trocken“ ist – trotz Windelfrei. Dein Kind ist nicht dümmer/schlechter/fauler …, wenn sie/er mit 1,5 Jahren noch nicht zuverlässig alle Geschäfte ansagt!
Besinne dich wieder auf dich und dein Kind, sei offen für eure (tatsächlichen und aktuellen) Wünsche und Vorstellungen. Und lass das „Funktionieren“ und das „Müssen“ weg. Dann könnt ihr wieder zueinander finden und kommunizieren. Es ergeben sich Lösungen. Und du hast wieder Freude in deinem Leben (und dein Kind dadurch auch :-) ).
Ja, aber …
Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass es oft schwerfällt, sich vom Gedanken zu lösen, dass das Kind durch Windelfrei früher „trocken“ wird (zu schnell stellt sich eine – z. T. unbewusste – Erwartungshaltung ein). Oder dass sie/er doch endlich zuverlässig Bescheid sagen soll. Oder sich zumindest manchmal ins Töpfchen erleichtern soll. Oder wenigstens …
Diese Erwartungshaltung und „Solls“ oder „Muss“ helfen nur leider gar nicht. Ganz im Gegenteil: sie hemmen. Sie hemmen dich und in weiterer Folge auch dein Kind. Denn dadurch kannst du nicht mehr schauen, was im Augenblick wichtig ist, was dir dein Kind mit seinem Verhalten sagen möchte.
Ich finde es schon wichtig, zu wissen, wo du hin möchtest. Und auf lange Sicht möchten wir alle dahin, dass sich das Kind selbst um seine Ausscheidungen kümmert. Aber das ist (in Bezug aufs Geschäftemachen) der allerletzte Schritt!
Der Weg des Trockenwerdens
Bevor dein Kind zuverlässig den Stillen Ort aufsucht, geht es …
- Um Selbstständigkeit in verschiedenen Bereichen: (Aus Sicht des Kindes) Ich will mich selbst aufs Töpfchen setzen! Ich will alleine die Hose hinunterziehen! Ich will bestimmen, wie lange ich sitzen bleibe! Ich habe jetzt keine Zeit fürs Töpfchen!
- Um das Erleben von Selbstwirksamkeit: Wenn ich Bescheid sage, dass ich mal muss, bringt mich Mama (Papa, Oma, Opa, Tante, Bruder …) aufs Töpfchen. Wenn ich mich weg strecke, lässt sie mich wieder herunter.
- Das Erkennen von Zusammenhängen: Aha. Wenn ich so ein komisches Gefühl im Bauch habe und drücke, geht es mir besser. Wenn ich im Unterbauch drücke, kommt ein Geschäft (wie Mama es nennt). Das fühlt sich nass an. Und anfangs schön warm. Mama mag es nicht, wenn meine Kleidung oder Windel nass ist. Wenn ich unruhig bin und ein Geschäft erledige, bin ich danach entspannter.
- Das Erleben von Vertrauen und Zutrauen: Mama überwacht mich nicht, sondern geht davon aus, dass ich ihr Bescheid sage. Auch, wenn ich manchmal abgelenkt bin oder etwas anderes möchte. Mama glaubt an mich. Mama weiß, dass ich mein Geschäft am Töpfchen mache, wenn es für mich stimmig ist.
- Das Erleben von Beziehung und Wichtig-Sein: Mama ist es wichtig, auf meine Bedürfnisse einzugehen. Wenn ich mich weg strecke, nimmt sie mich ernst. Dann weiß sie, dass ich nicht muss und nimmt mich herunter. Oder sie sucht nach anderen Lösungen, wie sie mir helfen kann. Mama versucht herauszufinden, was ich möchte und brauche.
- Freiheit: Ich entscheide, wo ich meine Geschäfte mache. (Ich weiß schon, dass Mama es toll im Töpfchen findet. Aber ich mag nicht „müssen“. Oder: Aber das fühlt sich für mich nicht gut an. Zu kalt, zu grün, zu unbequem, zu viel Vorgabe …; Wenn ich weiß, dass Mama mich auch mag, wenn ich Nein sage [und dass ich Nein sagen darf], und ich mir da ganz sicher bin, dann mache ich einfach mit :-) )
- Und nicht zuletzt eine gewisse körperliche Entwicklung: Komplette Kontrolle über den Schließmuskel (bewusstes entspannen bzw. anspannen). Vollständige Blasenentleerung. Eine gewisse Blasengröße ist von Vorteil. Zusammenspiel bestimmter Hormone bzw. überhaupt deren Produktion (z. B. das Antidiuretische Hormon [ADH], mit dem die nächtliche Urinproduktion verringert wird). Nervensignale von Blase und Darm müssen im Gehirn richtig erkannt und verarbeitet werden.
Fazit
Damit hast du jetzt viele relevante Informationen bekommen. Du kannst damit besser einschätzen, ob Windelfrei überhaupt zu dir und deiner Familie passt. Und du kannst endlich entspannen und loslassen:
Dein Kind wird eines Tages trocken sein! Wenn du mit Windelfrei am Ball bleibst, wahrscheinlich früher als der Durchschnitt der Vollzeit gewickelten Kinder. Wahrscheinlich. Garantie gibt es keine.
Denn: Windelfrei „funktioniert“ einfach nicht.
Geh in Kommunikation. Finde heraus, was dein Kind aktuell braucht, womit sie/er beschäftigt ist, welcher Entwicklungsschritt erst noch notwendig ist.
In diesem Sinne:
Keep calm and cheer on Ausscheidungsbedürfniskommunikation!
Quellen:
Rugolotto S, Sun M, Boucke L, Calò DG, Tatò L. (2008). Toilet training startet during the first year of life: a report on elimination signals, stool toileting refusal and completion age. Minverva Pediatrica, 60, 27-35.
Weibel L, Theiler M, Feldmeyer L. Hauterkrankungen des Säuglings. Akt Dermatol 2012; 38: 477–492.
PS: Franzi von Einfach klein hat bereits ähnliches festgestellt. Und auch Nicola Schmidt von 123-windelfrei.
PPS: Auch Attachment Parenting (AP) und unerzogen „funktionieren“ nicht! Dazu hat Nicola Schmidt hier geschrieben.
2 thoughts on “Achtung: Windelfrei funktioniert nicht!”