Bedürfnisorientierung – Stillen und Tragen reicht nicht!

Bedürfnisorientierung.

Bestimmt hast du dieses Wort schon oft gelesen oder gehört. Vor allem in der „alternativen Elternszene“. Ich verwende es selbst sehr gerne! Aber …

Was bedeutet ‚Bedürfnisorientierung‘ konkret? Dieses Wort wird oft falsch verwendet!

Ich bin selbst lange Zeit auf dieses Missverständnis hereingefallen!

Deshalb lass es mich klarstellen. Damit du jetzt gleich mehr Durchblick hast. Von Anfang an. Und mehr Freiheit dadurch! Und Klarheit!

Seit der junge Mann auf der Welt ist, habe ich wirklich viel verschlungen. Ich meine Literatur zu Attachment Parenting bzw. Beziehung statt Erziehung. Bei dieser „Erziehungs-“ richtung nimmt die Beziehung zum Kind einen wichtigen Platz ein.

Doch nicht nur die Beziehung ist wichtig, sondern auch Bedürfnisse. Vorrangig die des Kindes. In letzter Zeit auch vermehrt die der Eltern ;-) Gerade bei „unerzogen“ geht es um eine gleichberechtigte Eltern-Kind-Beziehung. Das heißt um „Selbst- und Mitbestimmung, Gleichwertigkeit der Bedürfnisse und Vertrauensvorschuss“ (P. Schimke, 2007. Gleichberechtigte Eltern-Kind-Beziehungen: ein Sekundär-Review zu den Effekten. Bielefeld University, Abstract.)

Im Alltag heißt das, dass Bedürfnisse überhaupt erst wahrgenommen werden müssen. Und manchmal abgewogen werden muss (sind meine oder deine Bedürfnisse akut dringender?).

Vielleicht denkst du: „Ach, das weiß ich doch schon alles! Tragen, Familienbett, Stillen nach Bedarf, selbstbestimmte Schwangerschaft und Geburt, Windelfrei, baby-led weaning … Wenn ich das mache, handle ich absolut bedürfnisorientiert!“

Doch da muss ich dir widersprechen.

Tragen, Stillen (nach Bedarf), Familienbett etc. kann bedürfnisorientiert sein – muss es aber nicht!

Lass mich das an ein paar ganz konkreten und realen Beispielen von sehr mutigen Eltern zeigen, die außerhalb ihrer Konzepte denken:

 

Bedürfnisorientierung ist, wenn …

Eine Trageberaterin ihr Kleinkind in einem Buggy, noch dazu vorwärtsgerichtet, schiebt, weil er das unbedingt möchte (S.)

Eine Mutter ihr ein halbes Jahr altes Kind ganz abstillt, weil sie feststellt, dass sie über ihre körperlichen Grenzen gegangen ist und sich stärker um sich selbst kümmern muss, um auch weiterhin ihre Kinder als Mutter begleiten zu können (M.)

Eine Mutter sich gegen das häufige Tragen ihres Babys entscheidet, da sie es körperlich nicht schafft/Schmerzen dabei hat, und stattdessen nach einer anderen passenden Lösung sucht (Achtung: evtl. passt die Bindeweise oder Tragehilfe nicht zu einem! Eine gute Trageberatung kann ggf. Wunder wirken!) (A.)

Eltern ihr 4-jähriges Kind auch bei längeren oder kürzeren Ausflügen ganz selbstverständlich noch tragen, wenn es das wünscht (Familie H.)

Eine Mutter ihr fast Kleinkind in der Babyschale weiterschlafen lässt und damit auch zu einer Veranstaltung geht (und das Kind länger als eine halbe Stunde in der Babyschale liegt), weil sie sonst das Baby durch das Umpacken ins Tragetuch aufwecken würde (J.)

Eltern ihr Kind wahlweise in voller Tageskleidung oder ganz nackt zu Bett gehen lassen, weil es ihm so gerade am liebsten ist (zu dem interessanten Umstand, überhaupt spezielle Kleidung zum Schlafen zu haben, gibt es ein andermal einen Artikel …) (Familie G.)

Eine Mutter ihr Baby (auch) immer wieder zum alleine Beschäftigen in die Wiege legt, weil sich das Baby dort offensichtlich wohler fühlt, als (nur) getragen zu werden (K.)

Eltern ihr Baby 23,5h im direkten Körperkontakt haben, weil der junge Mensch nur dann nicht weint (L.)

Eine Einjährige regelmäßig zur Tagesmutter geht, weil die Mutter dringend das Geld benötigt, das sie in dieser Zeit verdient (M.)

Ein ein halbes Jahr alter Junge alleine in seinem Zimmer schläft, da er mit Körperkontakt nicht zur Ruhe findet und bei den leisesten Geräuschen und Bewegungen im Familienbett oder im selben Raum sofort wieder munter ist.

 

Denk dich frei!

Hinter diesen einzelnen Sätzen stehen ganze Geschichten und Lebensentwürfe.

Vielleicht bist du versucht zu sagen, dass das ein oder andere Beispiel völlig unpassend ist! Vielleicht fragst du dich, wie ich etwas als bedürfnisorientiert darstellen kann, was doch ganz klar dem Kind schadet!

Ich möchte dich einladen, dein Schwarz-Weiß-Denken aufzugeben!

Es ist nichts einfach nur schlecht, und nichts einfach nur gut. Es ist immer abhängig vom Kontext. 

Eine Mutter, die völlig am Limit ist und keine Ressourcen mehr hat … darunter leidet die ganze Familie. Die große Chance liegt darin, dass die Mutter erstmal wieder sich selbst „fit“ bekommt. Und dieser Weg geht manchmal nur über Abstand zur Familie oder über das Loslassen dessen, was sie eigentlich für gut und richtig hält (z. B. [Vollzeit-]stillen).

Die Mütter und Väter dieser realen Geschichten haben es sich nicht leicht gemacht. Sie alle haben Attachment Parenting oder ähnliches als Vorbild. Und verletzen mit ihrem Handeln (vermeintlich) deren Prinzipien und Goldstandards!

Dazu gehört großer Mut und Selbstverantwortung!

Und das möchte ich mit diesem Artikel würdigen. Und die Augen öffnen, was Bedürfnisorientierung wirklich ist.

Oft wird in meinen Augen einfach nur die „Religion Erziehung“ gegen die „Religion Nichterziehung“ getauscht, das eine Konzept gegen das andere. Ohne wirklich selbst darüber nachzudenken und selbst zu entscheiden, was zu einem passt und was einem selbst wichtig ist. Ohne auf die wirklichen Bedürfnisse und Wünsche einzugehen.

Doch das ist es eben nicht.

 

Du kannst Bedürfnisorientierung nicht (so einfach) sehen!

Weder am Tragen oder Stillen, noch am Praktizieren von Familienbett oder Windelfrei! Du siehst es auch nicht daran, dass das Kind besonders ausgeglichen und kooperativ ist (das kann aus einer Bedürfnisorientierung resultieren, muss es aber nicht).

Bedürfnisorientierung kannst du in folgenden Situationen erkennen:

  • Der jüngere Mensch meldet ein Bedürfnis an, und der ältere Mensch geht geduldig und liebevoll darauf ein
  • Der ältere Mensch versucht, Lösungen zu finden, wenn Bedürfnisse oder Wünsche gerade nicht erfüllbar/umsetzbar sind
  • Der jüngere Mensch wird durch seine Gefühle durchbegleitet
  • Der ältere Mensch bleibt mit dem jüngeren Menschen in Kontakt
  • Der ältere Mensch agiert auf Augenhöhe mit dem jüngeren Menschen
  • Der ältere Mensch nimmt den jüngeren Menschen und seine Wünsche ernst (was nicht bedeutet, dass sie sofort oder alle oder überhaupt erfüllt werden)
  • Der ältere Mensch erkennt Bedürfnisse im Vorhinein und handelt entsprechend (z. B. den jüngeren Menschen rechtzeitig in den Schlaf begleiten oder sich selbst rechtzeitig mit Essen versorgen)
  • Der ältere Mensch versucht nicht, den jüngeren Menschen zu etwas zu überreden, sondern nimmt ihn/sie und seine/ihre Wünsche ernst und sucht Wege für die Umsetzung

(Extra pointiert: Babys, Kleinkinder, Kinder, Teenager … sind Menschen. Etwas oder viel jüngere Menschen. Doch ein Mensch wie ich und du, mit eigenen Ansichten, eigenen Erfahrungen und eigenem Willen.)

Bitte denke das nächste Mal darüber nach, wenn du Eltern ihr Kind im Kinderwagen schieben siehst, von einem selbstgewählten Kaiserschnitt hörst oder davon, dass sich eine Mutter gegen das Stillen entschieden hat: Vielleicht hat sich die Mutter/der Vater/die Familie die Situation genau überlegt und bedürfnisorientiert gehandelt. Vielleicht standen ihre/seine Bedürfnisse im Vordergrund, vielleicht die des Kindes.

Gib Eltern eine Chance! Ohne Verurteilung! Auch dir selbst!

Und vielleicht willst du jetzt selbst etwas in deinem Familienalltag ändern: mehr Sport machen, damit dir das Tragen leichter fällt – weil du und dein Kind es lieben! Eine von dir gewählte Windelfrei-Pause einlegen, weil du dich davon zur Zeit gestresst fühlst (dann komm doch auch gerne zu unserem nächsten Treffen oder wir setzen/telefonieren uns individuell zusammen in einem Familiencoaching). Mit jemandem reden, um dir deine Bedürfnisse überhaupt erstmal bewusst zu machen.

 

Was denkst du: Wann hast du bedürfnisorientiert gehandelt, obwohl es gegen deine „eigentliche“ Überzeugung war? Was bedeutet Bedürfnisorientierung für dich?

6 thoughts on “Bedürfnisorientierung – Stillen und Tragen reicht nicht!

  1. Danke..finde ich sehr gut auf den Punkt gebracht..erinnert mich an die Eigenverantwortung und dass wir nicht einfach Konzepte unreflektiert anwenden und uns damit besser fühlen oder über andere stellen..natürlich ist es meiner Meinung nach leichter einfach ein Konzept anzuwenden als immer wieder in Kontakt mit mir, Kind, Partner und Umwelt zu treten und die einzelnen Bedürfnisse wahrzunehmen und abzuwägen.

    • Hallo Julia!

      Danke! :-)
      Ja, ein guter Punkt! Wenn wir es nicht gewohnt sind, in Kontakt zu treten, ist es sehr schwierig. Weil wir ja mit unseren eigenen Themen konfrontiert werden, mit denen wir gleichzeitig in Kontakt treten „dürfen“. Und wir haben keine Sicherheit mehr im außen, niemanden, der uns sagt, wie es „richtig“ ist. Das kann ganz schön Angst machen!

      Erlebst du Eigenverantwortung auch als Sog, der total Lust macht auf immer mehr selber denken und entscheiden? :-)

      Herzliche Grüße!
      Lucia

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